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Thema: Schattenspiegel Mo März 14, 2011 8:32 pm
Kapitel 1 / Teil 1
Ich blicke noch einmal zurück. Hinter mir liegt sie, meine Welt. Heimat. Gefängnis. Hölle. Voller Verachtung wende ich mich ab und mache den entscheidenden Schritt. Den einen Schritt, der mein Leben verändern wird. Langsam, andächtig hebe ich mein Bein und schreite durch die kalte, silberne Oberfläche meines Spiegels.
Schwärze. Endlose Schwärze umfängt mich, doch mir kommen keine Zweifel. Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig war. Alles ist besser als der Ort meiner Vergangenheit. Ein silbriger Lichtschein erscheint vor mir. Bedächtig bewege ich mich auf ihn zu. Er fällt direkt auf mein Gesicht, doch blendet er mich nicht. Streift meine Augen mit angenehmer kühle.
Inzwischen kann ich seinen Ursprung erkennen. Nicht weit von mir öffnet sich die Schwärze in eine wunderschöne Waldlichtung. Der Mond bescheint den spiegelglatten See, auf dessen Oberfläche die Abbilder tausender Sterne funkeln. Ein lautloses Lachen umspielt meine Mundwinkel. Es ist war. Die Spiegelwelt. Sie existiert. Vorsichtig, um die gerade erschienene Umgebung nicht zu verscheuchen, streichle ich mit meinem schmalen Finger die Rinde einer großen Eiche. Sie fühlt sich fest an, so wirklich, so wunderbar. Mit leichten Schritten gehe ich zum Ufer des Sees, streiche das Schilf beiseite und beuge mich über das schwarze Wasser. Mein Spiegelbild lächelt mich an, blass und schwarzhaarig. Ich tauche meine Hand in das kühle Nass und beobachte, wie die Wassertropfen an meiner Haut abperlen.
Versunken in diesen Anblick bemerke ich ihn erst, als ich seinen Atem im Nacken spüre. Spüre den Griff seiner kalten Finger an meinem Oberarm. Immer noch lächelnd wende ich mich um und blicke in das weiße Gesicht, aus dem die violetten Augen begierig funkeln. Es sind wunderschöne, tiefgründige Augen, die die Abgründe hinter ihnen doch nur erahnen lassen. "Meinen Teil der Abmachung habe ich gehalten. Nun ist es an dir." Seine Stimme klingt bedrohlich drängend. Ich schweige, halte seinem Blick stand. "Bald." Er ächzt und richtet sich auf. "Du kennst die Dringlichkeit meines Begehrens. Du weißt, was es mir bedeutet." Ich genieße die Verzweiflung, die sein ohnehin perfektes Gesicht beinahe noch vollkommener erscheinen lässt. "Ja, ich weiß es." Dann schweige ich weiter. "Ich habe dich gesucht, ich habe dir von den Spiegelwelten berichtet, ich habe dir das Betreten ermöglicht! Warum verweigerst du mir meinen Lohn?" Ich mustere ihn, seinen schlanken, muskulösen Körper, gehüllt in einen schwarzen Umhang. Er wirkt angespannt. Das Mondlicht lässt seine Haut magischer glitzern, als es irgendein Licht der Wirklichkeit jemals vermocht hätte. Oder war dies die Wirklichkeit? Meine alte Welt erscheint mir bereits nur noch wie eine vage Erinnerung. "Warum schweigst du?" Sein Drängen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich erhebe mich ebenfalls. Lautlos. Ich kenne ihn. Ich weiß, was ihn bewegt. Ich kenne seine Gefühle.
Sie sind den meinen so ähnlich. Mit dem Finger streiche ich über seine Wange. Es fühlt sich an, als würde ich einen kalten, geschliffenen Stein berühren. "Ich verweigere die Belohnung nicht. Ich sagte bald." Er greift nach meinem Handgelenk. Ein Schauder durchläuft meinen Arm. In seinem Blick sehe ich Gier, doch auch Anzeichen von Zärtlichkeit. "Bei Vollmond treffen wir uns erneut hier. Dann löst du dein Versprechen ein." Spricht es und löst seinen Griff. Ich schenke ihm eine Andeutung eines Lächelns, dann wendet er sich ab und verschmilzt mit dem Schatten der Bäume.