Szene One: Bridge
Anhaltender Regen hing über den Straßen der kleinen Stadt an den Ufern des größten Flusses Großbritanniens, als wolle er Altes fortspülen und Platz für Neues schaffen, Feuer löschen und erneutes Aufflammen verhindern. Bei den meisten Menschen sorgte dieses Wetter allerdings nur dafür, dass sie nicht einmal ihren Hund vor die Tür scheuchen würden, wäre es nicht wirklich zwingend nötig, und alles wurde mit dem Auto erledigt. Man wollte ja schließlich nicht nass werden. Darum wunderte es auch nicht, dass man kaum eine Menschenseele sah, die sich der Witterung mit Schirm und Regenkleidung aussetzte.
Fast schon melodisch klang der Aufprall der Wassertropfen auf dem schwarzen Schirm der rothaarigen Frau, die tapfer gegen das Wetter kämpfte, den Kragen des schwarzen Mantels hochgeschlagen um sich auch so ein wenig vor dem Nass zu schützen, das vielleicht dank des Windes doch noch einen Weg unter den Schutz fanden.
Sie seufzte schwer, als sie kurz blinzelnd in den dunklen Himmel blickte, ehe sie wieder nach vorne sah. Sie hatte einfach raus gehen müssen. Raus aus den tristen Wänden ihrer Wohnung, fort von all den Gedanken an ihren Bruder, der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Es war ihr einfach alles zu viel geworden. Also war sie trotz des Wetter rausgefahren. Raus aus der Stadt, den Kopf freibekommen, dem Grau entfliehen. Und sie hatte fest stellen müssen, dass es trotz des Regens viel bessere Orte gab, als der, an dem sie nur ihre Sorgen, Ängste, Bedenken überfielen. Besser als in ihrem eigenen Zuhause. Ironie. Eigentlich sollte doch das der Platz sein, an dem man sich am wohlsten, sichersten und geborgensten fühlte.
Gedankenverloren warf sie einen Blick auf ihr Handy in der Hoffnung, dass sie vielleicht einen Anruf verpasst hatte oder eine SMS angekommen war. Irgendein Lebenszeichen von ihrem Bruder, der nun schon seit einer Woche spurlos verschwunden und für sie unerreichbar war.
Man wird seine Sorgen eben doch nie ganz los, stimmts?
Nein. Leider nicht. Denn sie klebten an einem Menschen wie kleine Dämonen, fraßen sich in sein Inneres und ließen sich nie ganz vertreiben. Höchstens für ein paar Stunden zurück drängen, sodass man sie fast vergaß. Wenn man allerdings wieder dorthin zurückkehrte, von wo man geflohen war, um sie los zu werden, waren auch sie wieder da. Ein ewiger Kreislauf.
Nun gut. Sie musste nur noch über den Fluss und zur nächsten U-Bahn Station dann wäre sie schon bald zuhause und vielleicht …
Sie erstarrte, als sie an der Brücke angekommen einen Schatten sah, der offensichtlich dabei war auf das Eisengeländer zu klettern. Vollkommen leer war ihr Kopf, als hätte jemand einen Knopf betätigt und ihr Denken komplett ausgeschalten. Es war einer dieser Momente, von denen man immer groß sprach, was man alles unternahm, wenn man jemals in so eine Situation geriert. Genauso, wie jeder sagte, dass er sich einmischen würde, wenn jemand auf der Straße zusammengeschlagen wurde, es in Wahrheit aber niemand tat.
Zum Glück funktionierten ihre Beine noch, übernahmen das Handeln. So rannte sie einfach los, ließ ihren Schirm fallen, da er sie sonst nur bremsen und behindern würde. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Denn sobald sie lief, war ihr Kopf seltsam klar und was sie tat, nahm sie deutlich wahr, ohne es willentlich zu steuern. Sie rannte durch den Regen, so schnell sie konnte, das kalte Wasser, welches ihr ins Gesicht schlug, ignorierte sie, wurde nur von diesem unbestimmbarem Drang getrieben, etwas zu tun, handelte einfach.
Mit großen, schnellen Schritten erreichte sie ihn, wusste sich im ersten Moment nicht anders zu helfen, warf sich gegen die Person, umschlang sie mit ihren Armen. Es fühlte sich an als würden sie ewig fallen, ehe sie hart auf dem nassen Betonweg aufschlugen.
Unendlich lang schien der Moment, den sie dort lagen, als der Regen auf sie niederprasselte, keiner der beiden ein Wort sprach oder sich auch nur rührte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie war außer Atem, kümmerte sich nicht um das Wasser unter und über ihnen, dass es dabei war, sich durch ihre Kleidung zu fressen, sich schwer auf ihre Haut legen würde, wenn es das erst einmal geschafft hatte. Es war unwichtig. Alles schien im Moment bedeutungslos. Alles bis auf diesem Mann, der eben dabei gewesen war, auf das Brückengeländer zuklettern und zu springen, bis auf sie, die im strömenden Regen auf ihm lag, nicht wagte sich zu bewegen aus Angst, damit den Augenblick zerspringen zu lassen, dass das alles nicht echt war und sie nur zusah, wie er sprang.
Schließlich war doch sie es, die sich zuerst rührte. Sie stemmte sich hoch, die Hände links und rechts von ihm auf den Boden gestützt sah sie zu ihm herab. Dunkles Haar klebte nass an seinem Gesicht, im Licht der Straßenlaterne seltsam blaugoldene Augen blickten leer in den schwarzen Himmel über ihnen, blinzelten nur das Wasser fort. Sie wollte etwas sagen. Irgendetwas. Doch ihr fiel nichts ein, so sah sie ihn nur schweigend an.
Sein Blick klärte sich, wanderte zu ihr. Doch bevor sie in der Lage war aus ihm etwas zu lesen, etwas zu erkennen sah er wieder fort, setze sich auf, worauf hin sie in die Hocke ging, abwartete, dass er etwas sagte. Doch dass tat er nicht, sondern zog sich nur schweigend an den Eisenstangen des Geländers neben sich auf die Füße. Sie sah ihn weiter an, ehe sie sich selbst erhob.
„Was tust du da“, rief sie aus, als er den Fuß auf die unterste Stange stellte, dazu ansetzte, wieder hinaufzuklettern. Er hielt inne, als sie ihn ansprach, sah zu ihr. Diesmal lange genug um etwas in seinem Blick zu lesen. Was sie in dem diffusen, orangenen Licht erkannte, war nichts anderes als Schmerz und Verzweiflung.
„Lass mich“, murmelte er, sah wieder weg. „Das ist meine Sache. Und ich will niemanden mit reinziehen.“ Mit diesen Worten wendete er sich ab, schaute hinaus in die Dunkelheit über den Fluss. Trauer lag in seiner Stimme und sie war sich nicht sicher, ob das Zittern nur von der Kälte herkam. Im Gegensatz zu ihr hatte er nicht einmal eine Jacke an, das Hemd klebte nass an seinem Körper. „Geh am besten weiter. Sonst holst du dir bei dem Wetter noch etwas.“
Sie blickte ihn an, nahm aus einem unbestimmten Impuls heraus seine Hand. Er sah wieder zu ihr. Erst auf ihre Hand, die die seine hielt, dann in ihr Gesicht. Schweigend. Sie fragte nicht weiter nach. Es war nicht nötig. Im Moment nicht. Der Grund, warum er hier stand, war jetzt genauso unwichtig wie eben, als sie am Boden lagen. Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder auf eines von ihm zu warten, nahm sie seine Hand fester, zog ihn sanft zu sich und legte die Arme um diesen fremden Mann. Sicher hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Aber wie konnte sie sich noch im Spiegel ansehen, wenn sie ihn jetzt einfach hier stehen ließ? Wie einfach weiter leben? Es war nicht richtig, fortzugehen und ihn springen zu lassen.
„Das ist nicht richtig“, sagte sie leise, während sie ihn so in den Armen hielt. „Warum auch immer du es tun willst. Es ist nicht richtig aufzugeben und den einfachen Weg zu wählen.“ Er senkte den Kopf, schloss die Augen bei ihren Worten, wissend, dass sie recht hatte.